Im Auge des Windes. Ein Detektiv-Abenteuer. Für alle ab zehn Jahren.

Es sollte der Beginn eines großen Abenteuers am anderen Ende der Welt werden. Doch kaum war die Dämmerung der ersten Nacht gewichen, nahmen an Bord des Forschungsschiffes unheilvolle Dinge ihren Lauf. Werden Jonas und Lia den Geheimnissen auf den Grund gehen können?
Ein Detektiv-Abenteuer auf hoher See – Flucht und Entkommen: Ausgeschlossen.

Für alle Leserinnen und Leser ab 10 Jahren und Hier als Druckversion erhältlich!

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AB 10 JAHREN | 216 SEITEN | 12×19 CM | 235 GRAMM

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Im Auge des Windes

LESEPROBE

Ein Detektiv-Abenteuer am Ende der Welt
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KAPITEL EINS - FAHRT AUFNEHMEN

Noch war Zeit. Lange hatte Jonas auf diesen Augenblick hingefiebert und nun stand er kurz bevor. Mit angewinkelten Knien und in kurzer Hose saß er wartend auf dem geriffelten Metallboden, der an einigen Stellen bereits leichten Rost ansetzte und dort von seinem ursprünglich ockergelben Pastellton in ein rötliches Braun überging. Gedankenvertieft betrachtete er seine zahlreichen Schürfnarben auf den Knien, erinnerten diese ihn doch an einige der schönsten Augenblicke in seinem noch jungen Leben.

Diese da erzählte so manche lustige Geschichte aus dem steinigen Bachlauf, den sie immer als Abkürzung in den Bretterbudenwald nutzen, und jene dort, an seinem anderen Bein, erinnerte ihn an die sommerlichen Kletterabenteuer. Die längste und tiefste von ihnen aber zog sich quer über das rechte Schienbein, diese hatte er als Erinnerungsstück von einem waghalsigen Seifenkistenrennen mitgebracht.

Jonas Rücken lehnte am kühlen Metallrahmen des Bettes, welches gerade genug Platz für einen schmalen Hering wie ihn bot. An nicht wenigen Stellen blätterte bereits die graue Farbe ab. Auf beiden Längsseiten war die Liegefläche durch ein doppelgittriges Bettgeländer eingerahmt, welches Jonas aus dem Krankenhaus kannte. Wie zuletzt, als er nach seinem Fahrradsturz eine Nacht dort verbringen musste. Vorsichtshalber. Naja, und eigentlich auch unverschuldet, schließlich hat so ein Hinterreifenplatzer selbst den geübtesten Fahrer schon einmal vom Sattel gerissen.

Jonas spürte, wie das harte Gestell auf seine Wirbelsäule drückte. Um die Szenerie eines Krankenhauszimmers weiter zu komplettieren, fehlten nur noch die Beinbügelgurte und ein in Klarsichthülle gepacktes und mit einer Schnur am Rahmen befestigtes Karteikärtchen, auf dem alle, die ihn hier besuchen würden, in vertrauter Schreibmaschinenschrift lesen könnten:

Jonas Karlkvist, geb. am 07.04.2010

Sternzeichen Widder. Abenteurer und großer Bruder. Leibgericht: Spaghetti.

Anders als er es vom Hospital kannte, duftete das Bett jedoch erfreulich frisch und die Matratze erweckte einen durchaus passablen Eindruck, sodass es sich hier entgegen der ersten Betrachtung sicher angenehm schlafen ließ. Die Müdigkeit würde ihn in den nächsten Tagen ohnehin einholen. Und die gewöhnungsbedürftigen Gitter? Nun ja, als Schutz vor dem Hinausfallen würden sie Jonas vermutlich noch ihren Dienst erweisen; schließlich ließ sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, wie Jonas die Nächte in seinem neuen Zimmer verbringen würde. Noch klang es für Jonas ungewohnt: Sein neues Zimmer, genau, so durfte man von es von jetzt an mit gutem Gewissen nennen.

Außer einer größeren Holzkiste und einem weißlich-beigen Handwaschbecken, welches durch einen lieblos arrangierten Fliesenspiegel eingerahmt wurde, befand sich auf der rechten Seite des Zimmers, also dort, wo Jonas gerade nachdenklich am Bett lehnte, nichts weiter. Das Waschbecken würde er ohnehin kaum benutzen; die Toiletten waren nicht weit entfernt. Und die Kiste? Jonas hatte einmal kurz probiert, sie zu öffnen. Es war jedoch vergeblich, sodass sie ihm schnell wieder aus dem Sinn geriet. Vielleicht wurden dort ja Decken für den Notfall aufbewahrt.

Auf der anderen Seite des überschaubaren Raumes, der durch die Eingangstür und das gegenüberliegende, lichtdurchflutete Fenster optisch in zwei etwa gleichgroße Hälften geteilt wurde, befand sich ein mannshoher Kleiderschrank, der zwar nicht viel, aber doch ausreichend Platz und Raum zum Verstauen bot und scheinbar nur darauf wartete, von Jonas bestückt zu werden. Unmittelbar angrenzend daran, in Richtung des Fensters, befand sich ein rechteckiger Schreibtisch aus dunklem Mahagoni-Holz, an dem den Einkerbungen, Kratzern, Wachsflecken und vor allem den unzähligen Glasrändern nach zu urteilen unter Kerzenlicht so manche Nacht durchgearbeitet und Pläne geschmiedet wurden. Als einziger Sitzplatz, abgesehen von Bett und Boden, stand ein windschiefer Holzstuhl zur Verfügung, der trotz – oder gerade wegen – seiner offensichtlichen Abnutzungserscheinungen Jonas in den Bann zog. Ganz sicher hat auf diesem schon so mancher Staatsmann Platz genommen oder ein windiger Unterhändler, der mit Piraten über die Freilassung von Geiseln oder Gold verhandelte.

Und wenn einer von Jonas´ Nachmietern diesen Stuhl einmal beäugen wird, wird er in Gedanken vielleicht den inzwischen über alle Grenzen hinweg bekannten elfjährigen Jonas sehen, wie dieser mit Hilfe von Zirkel, Lineal und alten Seekarten dem tobenden Sturm ausgewichen ist, von dem man sich auch Jahrzehnte später noch in alten Hafenkneipen erzählt. Und der größte aller Glasränder, dieser dort, der ist von ihm und seiner Orangenlimonade.

Jonas dachte daran, dass er hier, in seinem Zimmer, nur übergangsweise wohnte. Genau genommen nur eine gute Woche. Und dann würden sie wieder in die Heimat fliegen. Nach Schweden. […]

Jonas war scheinbar entgangen, dass seine Schwester bereits das Zimmer verlassen hatte, und so lief er an Deck, um der an Land stehenden Menge vor der Abreise noch einmal zuzuwinken. Schließlich ging die lang ersehnte Expedition zum Südpol endlich los.

Oben angekommen standen bereits seine sich umarmenden Eltern und eine fröhlich lachende Lia an der Reling. Jonas quetschte sich zwischen sie. Aber wo zum Himmel waren die taschentuchschwenkenden Menschen, die Posaunen, die Männer, die ihre Hüte in Luft warfen? Alles, was Jonas aus den Filmen und aus seinen Büchern kannte? Niemand, aber auch wirklich niemand bemerkte, wie die Arctic Hope den Hafen von Dunedin verließ, um die Fahrt Richtung Antarktis aufzunehmen.

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KAPITEL ZWEI - OSTWÄRTS

Inzwischen hatte sich auch Jeff, einer von Mutters Arbeitskollegen und auf dem gleichen Gebiet wie sie forschend, zu ihnen an die hintere Reling gesellt. Gemeinsam sahen sie nun den Wasserwirbeln nach, die die Arctic Hope auf ihrem Weg aus dem langgezogenen Fjord, dem Otago Harbour, hinterließ.

Jonas betrachtete neugierig das ihm dargebotene Wasserspiel und ihm war es, als wenn immer genau jene Verwirbelung, die er gerade verfolgte, unmittelbar, bevor sie eins mit dem sanften Ozeanwasser wurde, ihm zublinzelte und einen letzten Gruß in Form eines kurzen, gespiegelten Sonnenstrahls hinterließ. Mal dezent, mal unverfroren, mal freundlich und mal nur ganz kurz und ruppig. Wie Menschen in einer Fußgängerzone, deren Blicke sich kreuzen.

Obwohl sie gerade erst losgefahren waren und die Reise erst jetzt begann, breitete sich in Jonas bereits ein Gefühl des Ankommens aus, was sicher und vor allem daran lag, dass seine Mutter wieder bei ihm war, und die, als hätte sie es gespürt, Jonas augenblicklich an den Schultern ein Stück fester packte, als es ihm für Jungs in seinem Alter beliebte.

In den vergangenen Monaten hatten sie, also Mutter und Jonas, nur wenig Zeit füreinander, was daran lag, dass Liz – so kürzten Dad und ihre Freundinnen ihren Vornamen, Elisabeth, ab – von Forschungsauftrag zu Forschungsauftrag eilte und nur sehr selten in seiner Nähe, geschweige denn überhaupt in Schweden war. Jonas überlegte kurz, aber ihm war entgangen, wo es sie zuletzt hin verschlug. Er wusste noch, dass es ein Ort in Afrika war, und dass es um die Rodung des Urwaldes ging und illegal angelegte Kakaoplantagen und irgendeinen See in der Nähe. Und dass sie seit dieser Reise daheim nicht mehr ihre geliebte Schokolade aßen, oder wenn überhaupt nur noch ganz selten. Dabei war sie doch so lecker – aber wie soll bitte auch ein Elfjähriger nachvollziehen können, dass die linke Schokolade im Regal besser sein soll als die rechte, obwohl diese offensichtlich zehn Mal besser schmeckt?

Jeff und Vater inspizierten derweil das Schiff, indem sie alles anfassten, was sich in ihrer Nähe befand, ganz gleich, ob es schmierig, heiß oder vollkommen uninteressant war. Jonas dachte an all die Männer, die er im Baumarkt beobachten konnte, die jeden Gang abliefen, sämtliche Werkzeuge berührten und begutachteten, teils in Schubladen voller Schrauben griffen, nur um festzustellen, dass es tatsächlich Schrauben waren, und letztendlich doch nichts kauften, weil sie nichts benötigten.

Während Jeff und Vater in immer tiefere Fachsimpelei verfielen und sich dabei wie von einer unsichtbaren Hand geleitet über Deck führen ließen, und Mutter und Lia allmählich in den Schiffsbauch verschwanden, genoss Jonas die Stille, den sanften Fahrtwind und die sich ihm in allen Farbtönen zeigende Natur.

Auch wenn er in den vergangenen sechs Tagen, in denen seine Mutter die Ausrüstung für die Expedition sichtete, sortierte und verlud, bereits sowohl die nördlichen als auch die südlichen Landstriche nahe dem Fjord erkundet hatte (und sie sogar einen langen Tagesausflug in das Landesinnere nach Queenstown und den herrlichen Lake Wakatipu unternahmen), war der Blick aus der Mitte der Meerenge zu den ihn umgebenden Anhöhen ein gänzlich verschiedener, ein beeindruckenderer.

Vor wenigen Augenblicken war die geschäftige Hafenfront Dunedins noch klar und deutlich zu erkennen, Schiff an Schiff reihten sich dort dicht aneinander auf, um vom jetzigen Betrachtungspunkt aus eine kleine Lücke entstehen zu lassen, in der sich die vergilbte Leuchtreklame von Earl´s Fish & Chips auftat.

Nun, keine fünf Minuten später, war es für Jonas nur schwer zu verstehen, wie diese kleine Stadt, deren umlaufende Hügel nur spärlich besiedelt waren, die zweitgrößte Stadt der Südinsel sein sollte. Eben noch betrachtete Hafenarbeiter, Fischer und herumtollende Hunde wurden plötzlich klein und schemenhaft. Stattdessen zeigten sich ihm rechts und links der Meerenge kleine Dörfchen und vereinzelte Ansiedlungen, die Jonas jedoch weitaus weniger interessierten, als die vielen, vielen, teils bis zum Meeresspiegel, weidenden Schafherden und die beeindruckenden Albatrosse, die zur einsetzenden Dämmerung auf Nahrungssuche gingen und deren Flügelspannweite alles übertraf, was Jonas bislang in der Vogelwelt gesehen hatte.

Und nur einen Steinwurf davon entfernt, gänzlich unbemerkt und Teil des Naturschauspiels, tobte am Strand ein gutes Dutzend Kinder in seinem Alter umher, die eine schier endlos erscheinende Menge an Muscheln aus dem von der Ebbe freigelegten Sand gruben und in übergroßen Flechtkörben sammelten.

Oh ja, Muscheln, das hatte er schon festgestellt, gab es hier reichlich. Und jede Muschel, so bildete er sich ein, trägt eine eigene Geschichte mit. Welches andere so kleine Lebewesen könne denn schon von sich behaupten, abends in Japan einzuschlafen und morgens in Amerika aufzuwachen? Jonas stellte sich vor, wie sich die Muscheln aus entfernten Buchten über Wasserwellen hinweg nachts unter dem Mondlicht gegenseitig von ihren Erlebnissen erzählen würden. So wie es Menschen abends beim Lagerfeuer seit Generationen pflegen. Dabei, so befand er, sind Menschen den Muscheln gar nicht so unterschiedlich. Auch manche Menschen werden irgendwo angespült, ziehen weiter, wiederum welche öffnen ihre Herzen und andere bleiben ein Leben lang verschlossen. […]

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KAPITEL DREI - DER VORHANG FÄLLT

Da die Fahrtrinnen in dem Otago Harbour, der sich über eine Länge von mehr als 20 Kilometern in nordöstliche Richtung erstreckt und an der engsten Stelle keine 400 Meter breit ist, vergleichsweise schmal sind, gab es hier – ähnlich wie Jonas es von den geschlängelten Waldstraßen auf seinem Schulweg kannte – eine Geschwindigkeitsbegrenzung, bei der Schiffe nur mit wenigen Knoten sowohl landein- als auch landauswärts fahren durften. Das ergab zweifelsohne Sinn, denn Krach und hohe Wellen – und das weiß sicher jeder – verjagen nun einmal die Tiere. Um das zu verstehen, reicht es, einmal einem Angler über die Schulter geschaut und heimlich einen Stein ins Wasser geworfen zu haben. Und die Gesetze der Natur gelten nicht nur auf schwedischen Seen, sondern auch hier. In Sichtweite nisteten Gelbaugenpinguine und andere, seltene Seevögel. Und auch zahllose Lachsschwärme haben hier ihre Heimat gefunden.

Jonas wurde in diesem Moment schlagartig klar, dass genau das ja der Grund für diese Abenteuerreise war. Es ging also, wie Mutter ihm bereits in Schweden erklärte, um nicht weniger als die Erforschung und Bewahrung der Natur, der Artenvielfalt. Und speziell der Unterwasserwelt in der Antarktis. Und Mutter, die Meeresbiologin, hatte sie mit an Bord geschleppt. Wann immer es um Wasser ging, wusste sie Bescheid.

Ein lauter Pfiff wehte Jonas entgegen. Vorne am Schiff fuchtelte Vater mit den Armen und gab zu verstehen, dass Jonas kommen sollte. Jonas rannte zum Bug, vorbei an Seilwinden, Tauen, Stahltrossen und auf dem Boden fixierten Metallkisten, um sich zu Jeff und Vater zu gesellen, die auf einer wenig Vertrauen erweckenden Plastikbank zwischen einem Kran und dem einzigen, jedoch neuwertigen, Rettungsboot an Bord Platz genommen hatten. Während Jeff und Vater sich ein Bier geöffnet hatten, überreichte Dad Jonas eine Apfelschorle, die er aus seiner Jacke zauberte.

Jonas stützte seine Füße auf der untersten Strebe der Reling ab und blickte auf die See. Zunächst noch ein gutes Stück entfernt offenbarten sich ihm rechts und links zwei steile in das Meer ragende Hänge, die sich mit jedem Atemzug – einem Bühnenvorhang gleich – immer weiter zu öffnen schienen und am Ende das Schiff in die raue, tasmanische See ausspuckten.

Das letzte Tageslicht würde in Kürze verschwinden und der Wind, der ihnen auf offener See nun deutlich stärker ins Gesicht schlug, hatte sich merklich abgekühlt, als sie übereinstimmend beschlossen – »Das wäre doch ´was, oder?« – sich im Schiffsinneren bei einer Tasse Kakao oder einem sonstigen Heißgetränk aufzuwärmen.

Der Weg führte die drei vorbei an der frontal ausgerichteten Kapitänskabine, die sich ein wenig vorgelagert unterhalb der Steuerbrücke erstreckte, welche – abgesehen von zwei Masten und einem Ausguckturm – zugleich die höchste Erhebung des Schiffes darstellte. Die Fenster waren mit dünnen Vorhängen zugezogen, sodass zwar ein wenig Licht nach außen drang, jedoch nicht zu erkennen war, wie es innendrin aussah. Auf jeden Fall wäre dies, würde man das Schiff einmal als Hotel betreiben, die Luxus-Suite, allein schon wegen der Lage und dem 180-Grad Rundumblick.

Unmittelbar neben der Kapitänskabine, jedoch ein Stück weiter nach hinten verlagert, befand sich der Elektronikraum, dessen Fenster mit einer Milchglasfolie verklebt waren und aus dem es herrlich bunt blinkte und irgendwie auch wild summte. Hinter den beiden Räumlichkeiten war eine schmale, seitlich zur Fahrtrichtung ausgerichtete Stahltüre zu finden, die in das Schiffsinnere führte. Um auf hoher See dem starken Wellengang zu trotzen, konnte man diese von innen wasserdicht verriegeln.

Jeff und Vater traten über die erhöhte Schwelle und mussten sich wegen der geringen Durchgangshöhe sogar ein wenig ducken. Innen fanden sie sich in einem schmalen Treppenhaus wieder, wobei eine Treppe weiter nach oben, vermutlich zur Brücke, führte und die andere sie wieder hinab in den Flur zu den Kajüten bringen würde.

Und dorthin bogen Vater und Jeff auf direktem Wege auch ab. Jonas verlangsamte das Tempo.

»Kommst du nicht mit, Jonas?«, fragte Vater, der bereits auf der untersten Metallstufe stand, im Umdrehen. »Oder wolltest du noch bleiben?«

»Nur kurz«, entgegnete Jonas und machte an den im Flur hängenden Fotos und vergilbten Plakaten Halt. Jonas lehnte am Treppengeländer im flackernden Glühbirnenlicht und bestaunte die Bilder.

Die Arctic Hope, so las er, entstammte der japanischen Innoshima-Werft, von wo aus sie 1986 den Weg auf die Weltmeere fand und zunächst als kleines Schwesterschiff der japanischen Nisshin Maru der Walfangindustrie diente, ehe sie 1997 nach weltweiten Protesten zunächst stillgelegt wurde. In der Wolgaster Peene Werft, an der deutschen Ostsee, wurde das Schiff Anfang der 2000er Jahre mit Hilfe der EU zu einem Forschungsschiff umgebaut, welches nun unter deutscher Flagge die Weltmeere umschifft.

Mit 49 Metern Länge gehörte die Arctic Hope zwar nur zur Klasse der mittelgroßen Expeditionsschiffe, zeichnete sich jedoch durch ihre besondere Ausstattung aus: Neben einer Wetterstation, die direkt mit dem Deutschen Wetterdienst kommuniziert und dabei aktuellste GPS- und Klima-Daten sendet, sollen sich dem Plakat zu Folge an Bord diverse Echoloten, Systeme zur Land- und Wasservermessung sowie ein so genanntes CTD-System befinden. Die GPS-Technik kannte Jonas bereits vom Autofahren und das Echolot brachte er mit Walen in Verbindung. Von einem CTD-System hatte er aber bislang noch nichts gehört. Laut Aushang hatte es wohl irgendetwas mit Temperatur, Tiefe und Leitfähigkeit des Wassers zu tun, also eigentlich genau das, womit Mutter sich besonders gut auskannte. Die Messung der Wasserqualität war schließlich eine ihrer Hauptaufgaben und vermutlich war das CTD-System genau das Messinstrument, was in ihrer Verantwortung stand. Insgesamt sollen den Forschern an Bord sechs Laborräume zur Verfügung stehen. Und zur Freude von Jonas gab es sogar ein Satellitentelefon, von dem aus man bestimmt einmal Opa Gustav anrufen könnte. Allerhand. Fast wie eine kleine Stadt.

Für die Versorgung an Bord standen ein Meerwasseraufbereitungsmodul, eine Photovoltaikanlage und ein übergroßer Kühlraum zur Verfügung, der vielleicht sogar noch aus alten Walfangzeiten stammen könnte. Und wenn man – so wie Jonas gerade – die Augen schloss und ganz genau hinhörte, konnte man sogar das Wetzen der alten Messer hören und weiß gekleideten Arbeitern zuschauen, wie sie Wal-Öl in Fässer abfüllten. Ja, man konnte es sogar deutlich riechen.

Jonas wandte sich wieder dem Plakat zu. Als erstes, so las er aus handschriftlichen Ergänzungen, war die Arctic Hope für Greenpeace vor der philippinischen Insel Boracay im Einsatz gewesen, um die dortigen Fischereipraktiken zu überwachen und die Plastikverschmutzung vor den Küsten zu erfassen. Die weiteren Einsätze überflog Jonas nur kurz: Hilfe bei der Versorgung der Rohingya in Myanmar (karitativ), Unterstützung der Tsunami-Opfer in der Andaman-See (karitativ) und dazu diverse Forschungsreisen, überwiegend in das Südpolarmeer. Sieben an der Zahl. Daher wohl auch der Name des Schiffes. Die Forschungsreisen waren allesamt fein säuberlich aufgelistet: Datum, leitende Organisation, Route / Ziel, Dauer. Jeweils mit unterschiedlichen Handschriften.

»Cool, die aktuelle Reise steht auch schon drin«, bemerkte Jonas, als er das Datum in der letzten Zeile – dünn mit Bleistift geschrieben – las. »Aber«, wunderte er sich, »was soll das denn für ein Ziel sein? El Dorado?«

Jonas kramte in seinen Erinnerungen. Wo hatte er diesen Begriff schon einmal gehört?

Dann fiel es ihm ein. Genau, El Dorado kannte er aus alten Westernfilmen. Mit El Dorado war ein sagenhaftes Land gemeint, in dem es überall Gold gab und in dem alle steinreich waren. Vielleicht, so dachte er weiter, wollte sich hier jemand einen Scherz erlauben und meinte den Schneereichtum in der Antarktis. Oder doch das Wasser? Jonas hatte davon gehört, dass Süßwasser bald ein knappes Gut sein wird. Und daher kostbar. Vielleicht – und Jonas merkte, wie sich eine dunkle Vorahnung in ihm ausbreitete – war damit aber auch etwas ganz Anderes gemeint. Denn wo Gold war, das wusste er spätestens seit Karl May, waren Schießgewehre nicht weit. […]

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KAPITEL ZEHN - NÄCHTLICHE GEISTER

Um halb drei in der Nacht wurde es plötzlich laut auf dem Gang und Jonas, der friedlich und erschöpft unter seiner Decke lag, wurde unsanft aus seinem Schlaf gerissen. Zunächst hörte er nur ein paar einsame Schritte, dann wurden es immer mehr. Und sie wurden lauter.

Auch wenn die Sirenen noch ausblieben und die Violinisten sich wie beim Untergang der Titanic zum Spielen des Chorals »Näher, mein Gott, zu dir« erst noch sammeln mussten, war Jonas im ersten Augenblick klar, dass sich hier nichts anderes als eine Kollision mit einem gewaltigen Eisberg abgespielt haben könnte. Kalt war es. Dunkel war es. Und die hektischen Schritte auf dem Gang verhießen nichts Gutes.

Mit einem hölzernen Rumpeln wurde das erste Rettungsboot aus seiner Verankerung getragen. Gleich würde Hajo das Kommando erteilen: »Frauen und Kinder zuerst!«. Und dann hörte Jonas, wie der Rumpf bereits in zwei Teile brach.

Jonas´ Mutter hatte die Zimmertür geöffnet und stand nun im Rahmen. »Hallo Jonas, ich wollte nur nachsehen, ob du wach geworden bist!«, sprach sie mit sanfter Stimme. »Wir sind gleich da. Magst du mit Dad und mir auf Deck kommen?«

Jonas sah sie schlaftrunken an. Dann warf er einen Blick durch sein Zimmerfenster, aber bis auf ein dunkles Schwarz war nichts zu erkennen. Jonas war beruhigt, dass seine Fantasie ihm einen Fehlalarm beschert hatte und er wohl doch noch zwölf Jahre alt werden sollte.

Schnell stieg er in seine Pantoffeln, den Schlafanzug noch an, und folgte seinen Eltern. Lia hatte sich bei Mutters Besuch nicht geregt, sodass sie sie weiterschlafen ließen.

An Deck konnten sie, obwohl es tiefe Nacht war, die schwarzen Umrisse einer Insel – Campbell Island – und das dämmrige Licht eines Hauses oder Leuchtturmes erahnen. Davor waren Berge aus aufgeschäumter Gischt zu sehen und der Wind hatte im Vergleich zum Vortag noch einmal deutlich an Kraft gewonnen, sodass sie sich, um unbeschadet und sicher vorangehen zu können, am Geländer festhalten mussten. Schnell hatte sich herumgesprochen, dass Land in Sicht war. In ihrer Nähe standen einige Leute von der Crew und ein halbes Dutzend Teilnehmer der Expedition. Freude über das erblickte Land machte sich breit. Und das nach nur einem einzigen Seetag. Nicht auszumalen, dachte Jonas, wie Kolumbus sich gefühlt haben musste, als er erst nach über fünf Wochen wieder das erste Mal Land sichtete. Er muss ja vollkommen ausgerastet sein!

Langsam bewegte sich das Schiff auf die Insel zu, dann stoppten die Motoren, sodass die Arctic Hope nun wie ein Papierschiffchen auf einem kleinen Bach Wellengang und Strömung ausgesetzt war. Jonas wurde etwas unwohl, als er den Lichtpunkt am Horizont fixieren wollte und dieser sich – oder besser gesagt Jonas sich – gewaltig auf und ab bewegte. Gerne hätten sie noch ein paar Minuten an Deck verbracht, aber ihre dünne Kleidung und der Ruf des Kapitäns von der Brücke bewogen sie zum Rückgang

»Moin, Moin. Hier ist euer Käpt’n. Wie ich sehe, scheinen ja fast alle auf den Beinen zu sein. Wir haben unseren Landeplatz für heute Nacht erreicht. Morgen geht es mit den ersten Sonnenstrahlen dann direkt in die Bucht; der Seegang verweigert uns gerade die Einfahrt und hier draußen wimmelt es vor spitzen Felsen. Gute Nacht! Und schnallt Euch an! Kotzeimer bekommt ihr auf dem Klo.»

Jonas ging mit seinen Eltern wieder unter Deck, beschloss aber, da ihm der Magen schlagartig etwas flau wurde und er zu Abend wohl nicht genügend gegessen hatte, noch einen Happen zu sich zu nehmen; wohl wissend, dass sich sein Unwohlsein dadurch auch verschlechtern könnte (aber den Weg zur Toilette kannte er ja).

Jonas erinnerte sich, dass Mary-Anne ihm und Lia am Vortag das Versteck des Schlüssels zur Speisekammer anvertraut hatte. Gut sollten sie das Geheimnis hüten, hatte sie ihnen noch gesagt. Und Jonas wusste, dass die Speisekammer kein Selbstbedienungsladen war und eigentlich nur betreten werden sollte, wenn Zutaten für die Mahlzeiten und Snacks benötigt würden. Aber dies war nun heute einmal eine Ausnahme, weil der Obstteller, den er und Lia zubereitet hatten, tatsächlich schon leer war und sie ihn folglich zu sparsam bestückt hatten. Gerne hätte er Mary-Anne selber gefragt, aber an Deck hat er sie nicht gesehen und wecken wollte er sie auch nicht wegen einer solchen Lapalie.

Also ging Jonas selber schwankend zur Küche, fischte den Schlüssel hervor und betrat in einem unbemerkten Augenblick die Speisekammer, auf dessen Boden sich ihm… eine kleine Sauerei zeigte! Da lagen zerbrochene Eier, mindestens fünf, und eine Packung Mehl.

»Nicht verwunderlich!«, dachte Jonas, »dass bei diesem Wellengang auch mal etwas zu Bruch geht.«

Er schloss die Tür von innen, um nicht weiter aufzufallen, und schaltete das Licht an. Jonas musste sich festhalten, um nicht gegen einen der Schränke geschleudert zu werden. Behutsam räumte er die Eierschalen weg und wischte den Dotter mit einem Tuch auf. Die Mehltüte war nur auf einer Seite etwas aufgerissen, sodass er diese wieder in das Regal stellen konnte. Als er das Gröbste aufgeräumt hatte, griff er zu den Äpfeln und notierte pflichtbewusst die Entnahme: Minus 1 Apfel.

Jonas überflog die Liste. 120 Äpfel waren es zu Anfang, gestern hatten sie zehn Äpfel auf den Obstteller gelegt. Heute wurde ein weiterer entwendet. Macht 109 verbleibende Äpfel. Warum auch immer zählte Jonas noch einmal nach. Es hatte durchaus Gemeinsankeit mit dem Schafe Zählen, was viele vor dem Schlafengehen tun, um müde zu werden. Aber: Wie oft er auch nachzählte, er kam nur auf insgesamt 106 Äpfel. Drei Schafe fehlten.

Jonas suchte den Boden ab, schaute in die letzten Ecken, aber fand nichts. Die Äpfel konnten nicht aus der Kiste gefallen sein, dafür war sie zu hoch und der Wellengang dafür – zum Glück – noch zu gering.

Erneut hatte Jonas das Gefühl, dass es hier auf dem Schiff nicht mit rechten Dingen zuging. Vater sprach vor der Abreise noch spaßeshalber vom Klabautermann, der sich unbemerkt auf das Schiff begeben würde und sie in die Antarktis begleiten würde. Einerseits würde der Schiffsgeist den Kapitän heimlich vor Gefahren warnen und das Deck schrubben, anderseits würde er aber auch gerne Schabernack treiben. Er soll rote Haare haben und ein schauerhaftes, grünes Gebiss voller schiefer Zähne – vielleicht kam das Grün ja von den Äpfeln?

Und dann war da noch etwas: Wenn der Klabautermann sich tatsächlich einmal zeigen sollte – und Jonas hatte Vaters Wortlaut nun klar vor sich – wäre das Schiff dem Untergang geweiht. Es würde sinken. Vater hatte für diese Erzählung von Mutter eine ordentliche Ansage erhalten, von wegen, dass er die Kinder doch verschrecken würde und ihnen Angst einjagen würde. Und jetzt lief Jonas der kalte Schauer doch noch über den Rücken. Er glaubte nicht an irgendeinen Matrosen-Kobold, aber eine andere Erklärung hatte er im Moment auch nicht. Nur er, Lia und Mary-Anne hatten Zugang zur Speisekammer. Lia schlief, Jonas hatte mit dem Chaos am Boden nichts zu tun, und Mary-Anne? Warum um alles in der Welt sollte sie hier so ein Durcheinander hinterlassen? Auf ihrem eigenen Arbeitsplatz? Nein, so recht wollte das nicht passen. Gab es also vielleicht doch noch eine andere Person, die sich Zugang verschaffen konnte?

Jonas legte sein Ohr an die Tür der Speisekammer. Stille. Dann öffnete er diese und besah sich das Schloss. Es war alt und dem Anschein nach nicht wirklich sicher. Gut möglich also, dass es sich hier leicht einbrechen ließ.

Jonas schlich sich zurück zur Küche und griff vorsichtig eines der kleinen Schneidemesser. Würde es hiermit auch gelingen? Bei dem Wellengang war es zwar kompliziert, doch: In der Tat! Selbst mit dem Messer konnte man – ohne viel Kraft und Übung – das Schloss überwinden. Schnell brachte er das Messer zurück an seinen Platz und hatte, als er an der Schublade gerade mit dem Ärmel die Fingerabdruckspuren, die seine Mehlhände verursacht hatten, abwischen wollte, einen fabelhaften Einfall. Um zu wissen, wer hinter dem Diebstahl stand, müsse er dem Einbrecher nur eine kleine Falle stellen und dann dessen Spur folgen. Eine Spur, wie Hänsel und Gretel sie mit den Brotkrumen gelegt hatten. Nur andersherum. Und dann würde er das Knusperhaus, oder besser gesagt das Zimmer, des Diebes schon finden. Und so streute Jonas ganz behutsam etwas von dem angebrochenen Mehl auf den Boden. So würde er sehen können, wenn sich wieder jemand unerlaubt Zutritt verschaffen würde. Anschließend verriegelte Jonas die Tür, brachte den Schlüssel zurück in die Küche und legte sich schlafen.

Und dann wartete er unter der Bettdecke, dass jemand in seine Falle tappte.

Kurz darauf schlief er ein. […]

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KAPITEL DREIZEHN - IM BLITZLICHT

Vorsichtig steckte Jonas die Speicherkarte in den Slot. Ein Fenster öffnete sich: Inhalt der Speicherkarte anzeigen? Jonas zögerte und sah Lia an, deren Augen im Bildschirmlicht leuchteten und gebannt auf den Laptop schauten. Mit einem einfachen Klick würden sie einem weiteren Rätsel – oder zumindest einem Teil davon – womöglich auf den Grund gehen. Jonas atmete tief durch. Ein einfacher Fingertipp, mehr brauchte es nicht. Aber genau das machte ihm Angst. Was würde passieren, wenn sie etwas sähen, was sie nicht sehen sollten? Wenn sie vielleicht in eine Sache hineingezogen würden, die sie gar nichts angeht?

Ehe er seine Gedanken ordnen konnte, führte Lia bereits ihre Hand zum Touchpad, wo sie mit der Maustaste die Eingabe bestätigte. Nun gab es kein Zurück mehr. Es öffnete sich ein Ordner, der den kryptischen Namen DCIM_PAN_IR_AUCK trug.

Lia klickte auf das Symbol. Nun präsentierte sich ihnen der Inhalt des Ordners. In dem Ordner befanden sich zahlreiche Fotos, sodass beinahe der gesamte Bildschirm mit Dateien gefüllt war. Es dürften an die einhundert gewesen sein. Jonas ließ sie vom Computer nach Datum sortieren. Die ältesten waren gerade einmal sechs Tage alt, die jüngsten nur zwei. Jonas und Lia lagen also richtig mit ihrer Vermutung, dass die Zigarettenschachtel erst kürzlich verloren wurde. Noch hatten sie nur die Dateinamen und das Erstelldatum gesichtet, die eigentlichen Fotos hatten sie noch nicht zu Gesicht bekommen. Es war ein wenig wie mit einem Glas frischer Limonade im Sommer. Man hätte es direkt austrinken können oder solange anstarren und warten können, bis der Durst noch größer und der anschließende Genuss die eigentliche Erfrischung toppen würde. Oder wie bei einer ofenfrischen Pizza, von der man erst den Rand aß, um sich die Mitte für den Schluss aufzuheben. Und dort waren sie jetzt angelangt. Jetzt wurde es spannend.

»Was sind das für Bilder?«, fragte Lia.

Jonas änderte die Dateiansicht und ließ sich nun Vorschaubilder erstellen. Ein Bild nach dem anderen öffnete sich und nach kurzer Ladezeit offenbarte sich ihnen der gesamte Inhalt. Mehrere Bilder zeigten fast die identische Szenerie; allerdings zu klein, um etwas Genaueres zu erkennen. Jonas vergrößerte eines der Bilder.

Es zeigte im Fokus vier Männer, die an einem Bistrotisch saßen und sich zu unterhalten schienen. Ganz zu erkennen war es nicht, da das Licht etwas schwach war und das Bild somit leicht verwackelt war. Der Beleuchtung nach zu urteilen, war es bereits nach Sonnenuntergang. Im Hintergrund waren eine Straße zu erkennen und einige Passanten, die spazieren gingen. Im Vordergrund sahen sie einige andere Köpfe. Vermutlich Gäste eines Restaurants oder einer Bar. Jonas klickte ein Bild weiter. Es zeigte den gleichen Ausschnitt, allerdings noch unschärfer.

»Wieso sind die Bilder so unscharf?«, fragte Lia.

Jonas, der sich mit Kameras bereits etwas auskannte, sagte: »Das liegt bestimmt am Licht. Wenn es draußen dunkel ist, muss man die Kamera am besten auf einem Stativ festklemmen. Oder man nutzt einen Blitz.«

»Aber so ein Blitz fällt doch auf, oder?«, warf Lia ein, »Die Fotos hat doch bestimmt jemand heimlich aufgenommen?«

Jonas nickte: »So sieht es aus.«

Dann öffnete er ein weiteres Foto, diesmal zeigte sich das Geschehen klar und deutlich. Einer der vier Männer schien gerade etwas zu sagen oder zu erklären. Dabei blickte er zwischen die anderen hindurch in Richtung des Fotografen. Seinem Aussehen nach zu urteilen war er Asiate und um die 50 Jahre alt. Er trug einen schmalen Oberlippenbart und besaß ausgeprägte Geheimratsecken. Ohnehin war sein Haar bereits recht kahl und ergraut. Er trug ein schwarzes Sakko, das ihm, da er etwas fülliger war, an Brust und Schultern recht eng anlag. An seiner rechten Hand war ein goldener Ring zu erkennen, die Uhr trug er auf der anderen Seite. Das Auffälligste jedoch war sein Blick. Obwohl sein Mund freundlich geformt war, wollten seine Augen nicht zu seinem Gesichtsausdruck passen. Sie hatten etwas Verbissenes an sich, etwas Angsteinflößendes. Als würde er jeden Augenblick seinen Kopf noch ein Stück weiter in die Kamera drehen und den Betrachter direkt ansprechen wollen: »Hallo sie, was machen sie dort? Verschwinden sie sofort von meinem Grundstück! Ich zähle bis zehn. Eins, zwei, zehn!«

Er saß so zu sagen in der Bildmitte. Rechts und links von ihm saßen die beiden anderen Männer und der vierte ihm genau gegenüber.

Von dem Mann, der ganz links saß, war kaum etwas zu erkennen, da er den Worten des anderen wohl zuhörte und er seinen Oberkörper zu ihm gewandt hatte. Der dritte Mann wurde von einer anderen Person, weiter vorne im Bild, verdeckt. Und die vierte Person war aufgrund ihrer Sitzposition nicht annähernd zu erkennen. Man sah nur einen unbehaarten Hinterkopf.

Jonas öffnete das vierte Bild, welches aus einer ähnlichen Perspektive aufgenommen wurde. Schlagartig stockte sein Atem. Auch Lia rührte sich nicht vom Fleck. Nun waren auch die Gesichter der anderen beiden Männer zu erkennen, es waren Tyler Irving und Miguel Antorres, der Funker und sein Komplize. Jonas konnte sein Herz fast schlagen hören. Die Vorstellung, dass sie gemeinsam auf diesem Schiff waren und es auch noch einige Tage bleiben würden, ließ ihn erstarren.

Da half es auch nicht, dass sie hier vor den anderen beiden Männern sicher waren. Der Asiate war sicher nicht an Bord und einen Glatzkopf hatten sie auch nicht gesehen.

Wie in Trance klickten sie sich durch die weiteren Bilder. Jeweils auf der linken Seite eines Bildes sahen sie den Funker, der mal an einem Glas Cola nippte, mal sprach, mal zuhörte und ab und an wild mit den Händen gestikulierte. Sein Gesichtsausdruck wirkte angespannt, merkwürdig konzentriert. Das vereinzelte Lachen irgendwie aufgesetzt.

Ihm gegenüber saß der andere Mann, Miguel Antorres, dessen Augen durch eine Sonnenbrille verdeckt waren. Auf den meisten Fotos wirkte es so, als würde er dem Gespräch der anderen nur zuhören.

Der vierte Mann war immer noch nicht zu erkennen.

Die Fotoreihe endete mit einem Handschlag der vier Männer.

»Was glaubst du, was sie beschlossen haben, Jonas?«, wollte Lia wissen.

»Wenn ich das wüsste! Ich vermute aber, dass wir es bald herausfinden werden.«

Jonas´ und Lias Blicke kreuzten sich.

»Vielleicht helfen uns die weiteren Fotos dabei.«

Jonas klickte sich zurück zur Übersicht. Die eben gesehenen Bilder waren – wie sie zuvor schon festgestellt hatten – gerade einmal sechs Tage alt. Die drei folgenden Tage wurde nicht fotografiert. Die anderen Fotos wurde allesamt am selben Tag geschossen. Und zwar vor zwei Tagen.

»War das nicht…?«, Jonas rechnete kurz nach, »War das nicht der Tag unserer Abreise?«

Lia ging in Gedanken ihre Reise durch. Heute Campbell Island, gestern Seetag, vorgestern Dunedin. »Stimmt, du hast Recht!«

Jonas öffnete das nächste Foto. Es zeigte ein jüngeres Mädchen, welches an der Kaimauer einen Drachen steigen ließ. Es hatte eine kurze Jeans-Latzhose und ein auberginefarbenes T-Shirt an. Es blinzelte vergnügt in den Mittagshimmel, hoch, dem Drachen hinterher. Die blonden Haare hatte es zu einem Zopf geknotet und ihre Sommersprossen waren weithin zu erkennen. Das Besondere an dem Mädchen waren aber nicht etwa ihre hellblauen Augen oder ihre auffällig große Zahnlücke. Das Besondere an dem abgelichteten Mädchen war… dass es sich um Lia handelte!

»Was zum Himmel geht hier vor?«, wandte Jonas sich an Lia.

Doch er erhielt keine Antwort. Mit denselben blauen Augen, die dem Drachenspiel in der Luft nachsahen, starrte Lia fassungslos auf den Bildschirm. Jonas ergriff ihre Hand. Er suchte nach einer Erklärung des Ganzen, aber ihm fiel nichts ein. […]

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